Die Ausstellung VOLTO präsentiert unterschiedliche ästhetische Vorstellungen und künstlerische Methoden innerhalb der zeitgenössischen Zeichnung im Zusammenhang der Untersuchung zum Motiv des Gesichts und dem hervorgerufenen Bedeutungszusammenhang. Das Medium Zeichnung ist in den vergangenen Jahren eine sehr häufig genutzte und zentrale Disziplin im zeitgenössischen Kunstschaffen geworden. Der Grund liegt sicher sowohl in seiner persönlichen, intimen, subtilen und fragilen Natur als auch in seiner sehr reichhaltigen, sinnträchtigen Ausstrahlung.
Zeichnen ermöglicht wie auch das Schreiben spontane Improvisationen und sucht oft undefinierte und unvollendete Formen während die befreite Vorstellungskraft / die radikale Phantasie Dimensionen des Vordringens in verschiedene Territorien der Realitätserfahrung eröffnet.
Die Ausstellung Volto ist einem alten großen Thema zugleich vertrauten und enigmatischen Subjekt gewidmet: Dem Gesicht.
Gewiss wird der einzigartige, ausgesprochen persönliche, vornehmlich singuläre, nicht wiederholbare, unersetzliche, nicht austauschbare Charakter des Gesichts meistens zwangsläufig identifiziert mit der äußeren Erscheinung einer Person – mit dem Bild eines Individuums.
Sowohl die Befragung der Bedeutung und Botschaft des Gesichts als zentrales Motiv jeder persönlichen Erzählung, die Befragung des Rätsels des sichtbaren, sinnlichen, physischen, berührbaren, lebenden Teils des menschlichen Körpers oder die Erfahrung der unsichtbaren, vorgestellten, methaphysischen, klaren Vorstellung vom Bild des Menschen als auch die obsessiven, psychologischen und pathologischen Aspekte der Betrachtung des Anderen sind Themen der Arbeiten der sechs Künstler, die zu dieser Ausstellung eingeladen sind.
Die Zeichnung hat sich befreit von jeder allgemeinen Verpflichtung klare Formen erzeugen zu müssen, von jeder institutionellen Forderung nach Monumentalität oder materieller Solidität, von allen konventionellen hierarchischen Systemen und Darstellungen. Solange wir Figuren aus unserem intimsten und verborgensten Universum formen, bewahrt sich die Zeichnung eine fast anarchische, unkontrollierbare und spontane Dynamik, eine verstörende Unsicherheit und eine magische Fluidität der Bilder.
Die subversive Intimität und ein bestimmter – wenn auch unterschwelliger – autobiographischer Charakter der zeitgenössischen Zeichnung erlauben es dem Künstler zurückgezogen in seinem Atelier, sehr persönlich, verborgen, privat und nicht institutionell an seinem persönlichen Projekt zu arbeiten und zu schreiben – oder zu zeichnen- sein “journal intime” ohne moralisch bindende Standards irgendeines politischen Netzwerks oder kollektiven Kommunikations-Systems. Er ermöglicht es dem Künstler die erste Form eines neuen, persönlichen, nie erklärten, nie genau umschriebenen Konzepts der Formfindung zu finden, um ihn frei in den unkontrollierten Raum der unkontrollierbaren Vorstellungen und Träume eintreten zu lassen oder obsessiven Wegen innerer Kräfte zu folgen, um enigmatische, mysteriöse Beschwörungen einzufangen, kurz gesagt: sich ganz seinem einstweiligen ungeschützten, provisorisch poetischen Inneren zu überlassen.
Die unschuldige, provozierende Frische der Zeichnung, die Schönheit der immateriellen klaren Empfindsamkeit, die rätselhafte Kraft der emphatischen Fähigkeit der Linien erzeugt eine suggestive Kraft der Schwäche, eine subversive Wirksamkeit der Zerbrechlichkeit und Unsicherheit.
Die Zeichnung feiert die subversive Sinnesfreude der “prima linea”, die umfassende Umsetzung der Gefühlsstärke in kleiner anti-monumentaler, anti-hierarchischer Dimension; die Enthüllung der versteckten Bereiche der Seele.
Die Werke des rumänischen Künstlers Radu Belcin, des in Russland geborenen französischen Künstlers Anya Belyat-Giunta und des österreichischen Künstlers Eric Gruber übermitteln auf sehr subtile keinesfalls spektakulären Art die faszinierende Gegenwart von unkontrollierbaren Kräften und Energien, die die dunklen Gefilde unserer Realität offenlegen.
Radu Belcins etwas düstere Zeichnungen offenbaren das Gefühl permanenter Unsicherheit und Instabilität, die Macht unerklärlicher Kräfte, die das bekannte Motiv des menschlichen Gesichts transformieren und umformen. Die ruhige Objektivität seiner Bilder stimuliert paradoxer Weise die radikale Phantasie, die Bereiche wilder Assoziationen eröffnet.
Anya Belyat-Giunta’s merkwürdigen, exzentrischen Gesichter und Figuren sind verstörende Verkörperungen von traumartigen Halluzinationen, die tiefe, oft verborgene Erinnerungen, Projektionen, Vorstellungen, unerträgliche Erfahrungen und Gefühlskrisen wiederspiegeln.
Das Narrative von Anya Belyat-Giunta’s Zeichnungen zeigt einen anekdotischen Reichtum und verbindet ihre Vorstellungen mit einem literarischen, poetischen Mikrokosmos.
Eric Gruber konfrontiert uns mit extrem beunruhigenden, äußerst verstörenden Bildern von Gesichtern zwischen Mensch und Tier, zwischen vertraut und überraschen unbekannt er mischt so eine traumartige Irrationalität mit einer fast wissenschaftlichen Beobachtung der Realität. Gleichzeitig sind seine Zeichnungen zu verstehen als Erscheinung des Anderen, des Fremden, das uns immer begleitet und in uns lebt.
Im Werk des italienischen Künstlers Ugo Giletta, des Ungarn Aron Gàbor und der Französin Marine Joatton erscheint das Motiv des Gesichts in einem eher historischen, mythologischen und philosophischen Zusammenhang.
Aron Gàbor betont den langsamen, rätselhaften Prozess der Formfindung, bei der die Idee ihre endgültige Gestalt erhält. Sie scheint einsam im leeren Raum zu strahlen und zeigt das begrenzte Wesen im Gegensatz zur undefinierte Leere des abstrakten Universums.
Ugo Giletta hingegen füllt die leeren Gesichter mit Einzigartigkeit und Individualität ohne diese Individualität mit einer bestimmten Person, einer persönlichen Vergangenheit oder Geschichte zu verbinden. Es gibt keinen Besitzer dieser besonderen Singularitäten. Stattdessen werden diese Singularitäten sichtbare Wesen, eine raison d’être (Daseinsberechtigung), eine suggestive visuelle Präsenz ohne Repräsentationen von Individuen oder Portraits konkreter Personen zu sein.
Aron Gabor zeigt die unvermeidbare Tendenz zur Form als Kristallisation der begrenzten Elemente gegen das undefinierte Nichts, Ugo Giletta präsentiert die Möglichkeit Gebilde zu erschaffen, die ihre Identität und sichtbares Dasein erhalten ohne Personen mit ihrer eigenen Besonderheit zu sein.
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